Wer eine Skitour plant, sollte vorher die Wetterbedingungen und die Lawinengefahr prüfen. Bei Unternehmen ist es nicht anders. Wer in neue Technologien und Produkte investiert, braucht als Ausgangsbasis Fachwissen, einen guten Instinkt für Trends und – Mut. Doch lässt sich Mut lernen? Kann ein neues Fach wie Ingenieurpsychologie zum kommerziellen Erfolg beitragen? TRIOLOG hat darüber mit Prof. Dr. Nicole Maria Trübswetter und Prof. Dr. Hannah Jörg von der Fakultät Interdisziplinäre Studien an der Hochschule Landshut gesprochen.
Frau Trübswetter, vor einem Jahr haben Sie die Leitung des neuen Studiengangs Ingenieurpsychologie an der Hochschule Landshut übernommen. Dieses Fach gab es bundesweit nur an der Hochschule Tuttlingen. Brauchten Sie dazu Mut?
Prof. Dr. Nicole Maria Trübswetter: Jeder Schritt ins Unbekannte erfordert Mut. Meine gesamte berufliche und akademische Laufbahn hindurch habe ich mich mit Human-Factors-Fragestellungen und damit der Ingenieurpsychologie beschäftigt. Insbesondere während meiner Promotion an der TUM ist mir klar geworden, dass ich die akademische Laufbahn – sofern sich die Gelegenheit ergibt – weiterverfolgen und Professorin werden möchte. Als ich die Ausschreibung an der Hochschule Landshut entdeckte, fühlte ich mich sofort berufen, den neuen Studiengang Ingenieurpsychologie – im Englischen: Human Factors Engineering – einzuführen und in Kooperation mit den Kollegen und Kolleginnen der interdisziplinär aufgestellten Hochschule zukunftsweisende Fragestellungen an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik zu erforschen. Ich sehe das als große Chance, für Landshut und die Region Ostbayern.
Frau Jörg, Sie sind seit September dieses Jahres Professorin für Systemtheorie und Kybernetik, unterrichten im Studiengang Ingenieurpsychologie technisch-mathematische Methoden …
Prof. Dr. Hannah Jörg: Ich glaube, die Einführung von interdisziplinären Studiengängen ist immer etwas Unsicheres. Es braucht Mut, da man davon weggehen muss, Expertinnen und Experten nur in einer Disziplin auszubilden. Man muss außerdem neue Studierende ansprechen, sie motivieren sich zu bewerben, obwohl das Berufsbild in der Praxis noch nicht allen Unternehmen bekannt ist.
Womit befasst sich Ingenieurpsychologie und wie können Unternehmen davon profitieren?
Trübswetter: Ingenieurpsychologie untersucht das Erleben und Verhalten der Menschen im Umgang mit rationalen, technischen Systemen und ist sehr interdisziplinär ausgerichtet. Die enge Zusammenarbeit zwischen Experten und Expertinnen aus Ingenieur- und Naturwissenschaften, Psychologie und Design legt den Grundstein für eine erfolgreiche Produktentwicklung. Und hiervon können Unternehmen ganz besonders profitieren. Bei allen Produkten, Systemen und auch Dienstleistungen sollten Nutzerinnen und Nutzer im Zentrum der Produktentwicklung stehen.
Denn eine gute Nutzbarkeit verbessert die Akzeptanz von Produkten, was letztlich ein wichtiger Faktor für kommerziellen Erfolg ist. Es gibt viele Produkte, die teuer entwickelt, später jedoch nicht von der Zielgruppe gekauft oder benutzt werden. Fachleute aus dem Gebiet der Ingenieurpsychologie sollten deshalb bei der Entwicklung neuer Produkte mit am Tisch sitzen – von der Bedarfsanalyse bis hin zur Markteinführung. Das gilt nicht nur für Großkonzerne, die bereits eine nutzerorientierte Produktentwicklung anwenden, sondern auch für KMUs, also Klein- und mittelständische Unternehmen oder Start-ups. An dieser Stelle sehen wir noch sehr viel Potenzial.
Wie können die KMUs und Start-ups motiviert werden? Oder lässt sich Mut lernen?
Jörg: Vielleicht kann man Mut üben …
Trübswetter: Ich würde sagen, ja, man kann Mut lernen. Mut korreliert stark mit positiven Erfahrungen. Da sind wir beim Thema User Experience, also positivem Nutzungserlebnis. Wer gute Erfahrungen gemacht hat, ist beim nächsten Mal mutiger.
Sollten sich Unternehmerinnen und Unternehmer mehr trauen, zum Beispiel mehr Künstliche Intelligenz im Betrieb integrieren?
Jörg: Der Knackpunkt liegt für mich woanders. Sie brauchen eher Mut zu Entwicklungsansätzen, die nicht von vorneherein klar abgesteckt sind. Bei neuen Technologien weiß man vorher nicht genau, was dabei herauskommt. Das wirft Fragen auf wie: „Ist die neue KI-Technologie erfolgversprechend oder für die Fragestellung vielleicht gar nicht passend?“. Wissenstransfer kann eine zentrale Rolle übernehmen, um die Hemmschwelle zur Verwendung komplexer Technologien oder Lösungsansätze etwas abzubauen. Die Schnittstelle Hochschule kann dabei ideal unterstützen – zum Beispiel im abgesteckten Zeitrahmen neue Technologien etablieren.
Trübswetter: Im technischen Umfeld brauchen Führungskräfte in Unternehmen immer Mut, um neue Technologien zu entwickeln, insbesondere bei Investitionen in Personal und Ausstattung. Eine Investition rechnet sich meist erst in der Zukunft. In einer sich schnell wandelnden Gesellschaft und Wissenschaft ist es oft ungewiss, ob sich Investitionen in Forschung und Entwicklung auszahlen werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Trübswetter: Im Bereich Automatisierung forschen wir seit vielen Jahren, und keiner wusste am Anfang, wie schnell autonom fahrende Autos marktreif sein werden. Und hier spreche ich nicht nur von technischen Herausforderungen. Wer ist bereit einem selbstfahrenden Auto zu vertrauen? Wollen wir das Lenkrad wirklich loslassen oder fahren wir doch ganz gerne selbstbestimmt? Welche Vorteile sehen wir in einem autonomen Fahrzeug und wofür könnten wir die freiwerdende Kapazität oder Zeit nutzen? Diese und ähnliche Fragestellungen habe ich in Kooperation mit Automobilherstellern und Zulieferern in den letzten Jahren erforscht, um die Rolle der Nutzerinnen und Nutzer stärker in den Blick zu nehmen. Immens wichtig für die Investition in Forschung sind neben Mut auch ein gutes Fachwissen und ein sicherer Instinkt für Trends.
Jörg: Es gibt viele ostbayerischen Unternehmen, die zum Beispiel im Bereich Datenverarbeitung und Informations-
extraktion stark methodisch vorangehen und Innovationen gegenüber durchaus offenstehen. Da liegt noch viel
Potenzial.
Frau Jörg, Frau Trübswetter sprach gerade von Instinkt.Sie entwickelten für ein Unternehmen in Bayern
Suchgeräte für Lawinenverschüttete. Welche Rolle spielt neben der Technik eigentlich noch Instinkt und Erfahrung?
Jörg: Durch systematisches Vorgehen, technische Expertise und regelmäßige Neubewertung der Situation lassen sich Risiken im Entwicklungsprozess bis zu einem bestimmten Grad absichern. So ähnlich wie bei der Planung einer Skitour: Zunächst den Wetterbericht und die Schneelage prüfen und dann abschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass sich ein Schneebrett löst, wenn ich diesen bestimmen Hang quere. Skitourengeherinnen und -geher kennen die Wetterbedingungen und das Gelände meist sehr genau. Für Notfälle haben sie ihr Suchgerät dabei. Und dennoch – wie bei Innovationen auch – gehört für eine Tour ein kleines Quäntchen Mut dazu.
Das Interview führte Sabine Polacek
Prof. Dr. Nicole Maria Trübswetter studierte Informationswissenschaft und Psychologie an der Universität Regensburg. Anschließend war sie einige Jahre in der freien Wirtschaft, unter anderem bei der Continental AG und der BMW AG tätig. Bereits während ihrer Promotion an der Technischen Universität München am Lehrstuhl für Ergonomie lehrte sie an der TH Deggendorf im Bereich Usability Engineering und seit 2014 an der Hochschule Landshut in den Bereichen Assistenzsysteme und Mensch-Maschine-Interaktion. Im Wintersemester 2020/21 hat sie die Studiengangsleitung für Ingenieurpsy- chologie an der Hochschule Landshut übernommen. | Prof. Dr. Hannah Jörg studierte Technomathematik an der Technischen Universität München. Sie promovierte am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt am Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme mit Anwendungsbezug zur Erdfernerkundung. Vor ihrer An- stellung an der Hochschule Landshut arbeitete Jörg im Industrie-Sektor – bei der x-log Elektronik GmbH – und entwickelte dort Suchgeräte für Lawinenverschüttete. Seit September dieses Jahres ist sie an der Hochschu- le Landshut Professorin für System- theorie und Kybernetik. |