Das Bordnetz ist das Nerven- und Energiesystem eines Autos und somit das Herzstück eines jeden Kraftfahrzeugs. Denn Hunderte bis Tausende von elektronischen Verbindungen entscheiden über die gesamte Funktionalität. Prof. Götz Roderer, Professor für Bordnetzentwicklung an der Hochschule Landshut, im Gespräch mit EINFALLSreich über autonomes Fahren, Innovationen in der Fahrzeugbranche und was Studierende als künftige Bordnetzarchitekt*Innen wissen müssen.
Herr Prof. Roderer, Sie waren unter anderem beim japanischen Automobilzulieferer Yazaki verantwortlich für die Bordnetzentwicklung in Europa. Was finden Sie an Kabelbäumen so spannend?
Prof. Roderer: Das Bordnetz ist ein Teilprodukt des Autos, das oft völlig ignoriert wird, denn die Verkabelungen sieht man im fertigen Fahrzeug nicht. Dabei handelt es sich um riesige und teure Bauteile, die da verbaut sind. Mehr als 60 Kilogramm Verkabelungstechnik, mit bis zu 1500 Leitungen aus teurem Kupfer, je nach Modell und Ausstattung. Diese 60 Kilogramm müssen alles bringen! Spannend finde ich also die Frage: Wie bilde ich damit die ganze Funktionalität im Fahrzeug ab, wie liefere ich all die Energie und wie bringe ich Daten so schnell und sicher wie möglich ans Ziel? Das verändert sich fast jährlich. Man muss also am Ball bleiben und fähig sein, das zu entwickeln. Die Elektroniker*innen bauen die Funktionen in all die Steuergeräte ein. Aber was passiert zwischen den diesen Black-Boxes? Das finde ich interessant.
Sie befassen sich mit neuen Technologien. Laut einer Deloitte-Studie aus dem Jahr 2019 „Urbane Mobilität und autonomes Fahren im Jahr 2035“ werden selbstfahrende Autos bis dahin selbstverständlich sein. Wie realistisch ist das Ihrer Meinung nach?
Prof. Roderer: Erst 2035? Ich dachte, wir sind schneller. Denn sowohl beim autonomen Fahren als auch bei der E-Mobilität laufen viele Dinge wie Software, Sensorik und Datenübertragung zusammen – das hat alles mit Bordnetzentwicklung zu tun. Es laufen also zwei Innovationen parallel. Hinzu kommt die Robotik in der Produktion der Kabelbäume, gerade in der heutigen Zeit. Ein weiteres großes Thema, das die Automobilindustrie antreibt. Um zur Frage zurückzukommen: Die Software für autonomes Fahren ist schon relativ weit. Nun gilt es nachzuweisen, dass diese Art zu fahren sicherer ist, also weniger Unfälle verursacht, als ein Mensch am Steuer. Dem US-Autohersteller TESLA ist es bereits weitgehend gelungen. Gleichzeitig müssen alle beteiligten Komponenten extrem sicher ausgelegt werden, darunter gerade auch das Bordnetz.
Wie innovativ ist die Fahrzeugbranche hinsichtlich ihrer elektronischen Vernetzung?
Prof. Roderer: Das Bordnetz eines modernen Fahrzeugs muss sich den aktuellen Trends in der Automobilindustrie anpassen. Die Anforderungen sind hoch. Die Branche operiert mit zwei bis drei Jahren reiner Entwicklungsarbeit. Nach dieser Zeit müssen Tausende Wagen auf den Markt – und das global verteilt. Da hängen etliche Firmen dran. Wenn eine Serie in der Produktion ist, sitzen Bordnetzarchitekt*Innen schon längst an der Planung der nächsten Fahrzeuggeneration. Das erfordert viel Know-how über neue Komponenten und neue Technologien und somit auch den Mut zu einem stets kontrollierten Risiko. Damit alles funktioniert, sind Tests nötig sowie Leute, die sich mit den technischen Lösungen auskennen, sich aber auch neue Themen erschließen und diese beherrschen können. Denn falls es am Fertigungsband bei tausend Autos pro Tag Probleme gibt, sind Sie als Zulieferer wirtschaftlich schnell „tot“.
Im Oktober 2015 startete in Landshut der deutschlandweit einmalige Master-Studiengang Bordnetzentwicklung, unterstützt von sechs Firmen. Was müssen Masterstudierende heute wissen?
Prof. Roderer: Der Masterstudiengang bereitet auf eine Tätigkeit in der Entwicklung, Planung und Fertigung im Bereich der physikalischen Bordnetze vor. Die Studierenden müssen alle Rahmenbedingungen kennen und viele Jahrzehnte an Erfahrungen mit neuen Lösungsmöglichkeiten verbinden können. Mit Hilfe einer 3D-Brille können sie heute in der virtuellen Realität zum Beispiel Kabel anfassen und bewegen, bevor das Fahrzeug in der Realität existiert. Denn sie müssen lernen, in engen „Bauräumen“ zu arbeiten, wie wir das nennen. Zudem gilt es, sich mit den hohen Strömen und Spannungen vertraut zu machen, sowie mit den Werkzeugen einer modernen, computergestützten und globalisierten Entwicklung. Außerdem ist es wichtig zu lernen, was bei plötzlichen Produktionsengpässen zu tun ist, wie man also Risiken minimiert und mit ihnen arbeitet.
Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Themen und Trends wie Nachhaltigkeit?
Prof. Roderer: Früher waren Hybridfahrzeuge ein Thema, heute ist es E-Mobility. Als Entwickler müssen wir den gesellschaftlichen Einflüssen genauso begegnen wie die Autohersteller und Zulieferer. Dem Nachhaltigkeitsgedanken können wir auch an der Hochschule gerecht werden. Denn Masterstudierende lernen, wie Nachhaltigkeit ins Auto gebaut wird, also die Methodik und die Bausteine dazu. Unter den funktionalen Voraussetzungen, die sich ständig ändern, gilt es, das Bordnetz dabei möglichst klein und effizient halten. Das ist der Nachhaltigkeitsgedanke.
Das Interview führte Sabine Polacek
Prof. Roderer ist studierter Physiker. Nach einer einjährigen Tätigkeit bei einem südafrikanischen Softwareunternehmen wechselte er zu Siemens und arbeitete dort im Bereich Bordnetz und Vorentwicklung. Dieser Unternehmensbereich wurde von Yazaki übernommen, dem weltgrößten Hersteller von Kabelbäumen und Komponenten. Dort war er für die Bereiche Forschung und Vorentwicklung in Europa verantwortlich. Im Master-Studiengang Bordnetzentwicklung hält er u.a. Vorlesungen zur Bordnetzarchitektur, über das elektrische und mechanische Design sowie über die Fertigung. Am 20. September 2022 findet an der Hochschule Landshut der 11. Bordnetzkongress statt, an den dem Prof. Roderer und Studiengangsleiter Prof. Dr. Mathias Rausch mitwirken. | |
Über die Hochschule Landshut:
Die Hochschule Landshut steht für exzellente Lehre, Weiterbildung und angewandte Forschung. Die sechs Fakultäten Betriebswirtschaft, Elektrotechnik und Wirtschaftsingenieurwesen, Informatik, Interdisziplinäre Studien, Maschinenbau und Soziale Arbeit bieten über 50 Studiengänge an. Das Angebot ist klar auf aktuelle und künftige Anforderungen des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Die rund 4.600 Studierenden profitieren vom Praxisbezug der Lehre, der individuellen Betreuung und der modernen technischen Ausstattung. Für Forschungseinrichtungen und Unternehmen bietet die Hochschule eine breite Palette an Projektthemen, die von wissenschaftlichen Fachkräften mit bestem Know-how betreut und umgesetzt werden. Rund 120 Professorinnen und Professoren nehmen Aufgaben in Lehre und Forschung wahr.