The language is the message

02.10.2023|Sprache|Ukraine

Kultur- und Sprachenkampf in der Ukraine

Interviews an der Hochschule Landshut mit zwei aus der Ukraine geflüchteten Frauen: Viktoriia Mykhailiuk-Vrachynska und Olena Oleksiivna Oleksenko

Sprachverwandtschaft

Ähnlich wie bei den romanischen Sprachen, wo beispielsweise das Französische und Spanische aus dem Lateinischen hervorgegangen sind, so verhält es sich auch beim Ukrainischen und Russischen: Sie gehören beide der ostslawischen Sprachgruppe an und sind auf die gemeinsame Schriftsprache Altostslawisch in der Kiewer Rus zurückzuführen, dem Vorläuferstaat der Ukraine, aus dem später auch Russland hervorgegangen ist. Seit dem 14. Jahrhundert haben sich Russisch und Ukrainisch immer weiter voneinander entfernt und stellen heute, bei allen Gemeinsamkeiten, zwei eigenständige ostslawische Sprachen dar, die jeweils über ein eigenes Sprachgebiet, eine eigenständige Phonetik, Grammatik und Lexik, eine jeweils spezifische Ausformung des kyrillischen Alphabets, eine eigene Literatur und Kultur verfügen.

„Brüdervölker“?

In der russischen Nationalhymne wird der „brüderlichen Völker jahrhundertealter Bund“ besungen, womit natürlich auch und zuallererst die Ukraine gemeint ist. Bei näherer Betrachtung hat sich Russland gegenüber der Ukraine allerdings meist nicht brüderlich verhalten, was unter anderem auch in der Sprachpolitik deutlich wird: In den vergangenen vierhundert Jahren der russisch-ukrainischen Geschichte angefangen vom Zarenreich, über die Sowjetunion bis hin zur heutigen Russischen Föderation wurden über 100 Vorschriften und Gesetze erlassen bzw. Maßnahmen umgesetzt, die es zum Ziel hatten, den Gebrauch der ukrainischen Sprache in der orthodoxen Kirche, im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, sowie im Bildungssystem einzuschränken und zu unterdrücken und gleichzeitig die Verbreitung und den Gebrauch der russischen Sprache auf dem Gebiet der Ukraine zu fördern. In diesem Zusammenhang von Linguizid zu sprechen, also der bewusst geplanten Vernichtung einer Sprache durch gezielte institutionelle Maßnahmen, erscheint nicht übertrieben.

400 Jahre Linguizid

Die Russifizierung ukrainisch-sprachiger Gebiete ging vor allem unter Stalin mit der systematischen Umsiedelung von Ukrainern:innen nach Sibirien und Kasachstan einher. Einzelpersonen wurden liquidiert und die von Stalin herbeigeführte Hungersnot „Golodomor“ tat ein Übriges. An Stelle der Ukrainer:innen wurden gezielt Russ:innen im Osten und Süden der Ukraine angesiedelt.

Gewaltsame Russifizierungs-Maßnahmen sind auch jetzt wieder im Zuge des russischen Angriffskrieges im Donbass, in Mariupol und vielen anderen Orten zu beobachten.

Um das historische Ausmaß und die Kontinuität dieser kulturellen und sprachlichen Unterdrückung aufzeigen, seien hier stellvertretend nur einige der Russifizierungs-Maßnahmen im Laufe von vier Jahrhunderten genannt :

1626 – Die Moskauer Synode befahl die Entfernung aller ukrainischen Bücher aus den ukrainischen Kirchen und deren Ersetzung durch russisch-sprachige Moskauer Ausgaben

1720 – Der russische Zar Peter I (Peter der Große) erließ eine Verordnung (Ukas), die das Drucken von Büchern in ukrainischer Sprache verbat.

1863 / 1876 – Das Walujew-Zirkular und der Emser Erlass von Zar Alexander II sollten die Verbreitung der ukrainischen Sprache aus machtpolitischen Gründen eindämmen: Sie verbaten den ukrainisch-sprachigen Unterricht an ukrainischen Grundschulen, die Verwendung der ukrainischen Sprache in Musik- und Theater-Veranstaltungen und den Druck ukrainisch-sprachiger Bücher auf dem Gebiet des russischen Reiches.

1926 – Josif Stalin erließ in der Ukrainischen Sowjetrepublik Sanktionen gegen die Protagonisten der Ukrainisierung: Es begann eine drei Jahrzehnte währende Verfolgung, Deportation und Eliminierung von ukrainischen Kulturschaffenden, Lehrern, Ingenieuren, Ärzten, Schriftstellern usw.

2022 – Vom 24. Februar bis zum 1. Oktober wurden vom Beauftragten für den Schutz der Ukrainischen Amtssprache Taras Kremin über 200 Akte der Unterdrückung des Ukrainischen in den von Russland besetzten Gebieten festgestellt.

Der russische Angriffskrieg stellt somit einen neuen Höhepunkt dieser sprachlich-kulturellen Unterdrückung dar: Allerdings hat Putins Russland bisher das genaue Gegenteil von dem erreicht, was es erreichen wollte. Anstatt eine vollständige Russifizierung der Ukraine zu vollziehen, wurde durch diesen Krieg das größte und nachhaltigste Ukrainisierungsprogramm in der Geschichte des Landes in Gang gesetzt:

Abstimmung mit der Zunge

Im ersten Kriegsjahr haben nach Angaben des ukrainischen Demoskopie-Instituts „РЕЙТИНГ“ 22% aller Ukrainer:innen den Gebrauch der russischen Sprache ganz oder teilweise eingestellt; unter den Zweisprachigen bzw. vorwiegend russischsprachigen Ukrainer:innen waren es 45%, Tendenz steigend.

58% der Ukrainer:innen gaben laut einer von „РЕЙТИНГ“ durchgeführten landesweiten (mit Ausnahme der besetzten Gebiete) Telefonumfrage vom Februar 2023 an, dass sie zu Hause ausschließlich Ukrainisch sprechen, 30 % sprechen sowohl Ukrainisch als auch Russisch und nur noch 11% verwenden im häuslichen Umfeld vorrangig Russisch. 82% der Ukrainer:innen betrachten laut dieser Umfragen das Ukrainische als ihre Muttersprache.

Sozialisierung und Sprachgebrauch

Allerdings ist die sprachliche Situation in der Ukraine alles andere als homogen.
Einerseits gibt es in der Ukraine diverse Minderheitensprachen (wie z.B. Ungarisch, Weißrussisch, Bulgarisch, Krimtatarisch, Moldawisch usw.), die in den meisten Fällen von jeweils nicht mehr als einem Prozent der Bevölkerung gesprochen werden.
Andererseits unterliegt die Verwendung der beiden großen Sprachen Russisch und Ukrainisch diversen systematischen Unterschieden:

  1. Stadt / Land: In den ländlichen Räumen wird generell mehr Ukrainisch gesprochen, während die urbanen Zentren Kyjiv und Charkiw stärker russifiziert wurden und daher das Russische dort in der Vergangenheit überwog.

  2. Generationen-Unterschied: Die in der Sowjetunion sozialisierten älteren Menschen verwendeten vor allem in den russifizierten Gebieten im Osten und Süden mehr Russisch als die Jüngeren, die nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine (1991) sozialisiert wurden und tendenziell dem Ukrainischen den Vorzug geben.

  3. Sprachmischung: Vor allem in der Zentralukraine ist die russisch-ukrainische Mischsprache „Surschyk“ weit verbreitet, die gleichermaßen Elemente des Russischen und des Ukrainischen aufweist. Das ukrainische bzw. russische Wort „Surschyk“ (суржик) bezeichnet ursprünglich eine Mehl-Mischung aus Weizen und Roggen und wird in der Ukraine im übertragenen Sinne für die ukrainisch-russische Mischsprache verwendet, die vorrangig in der Zentralukraine gesprochen wird.

  4. Regionale Verteilung: Der größte Unterschied in der Sprachverwendung des Ukrainischen und Russischen ist in der regionalen Verteilung zu finden: Die Ukraine erscheint zweigeteilt – in eine vorwiegend russisch-sprachige Ost- und Südukraine und eine hauptsächlich ukrainisch sprechende Zentral- und Westukraine. Die oben abgebildete Sprachenkarte der Bundeszentrale für Politische Bildung aus dem Jahre 2014 zeigt diese Verteilung von Ukrainisch und Russisch als vorwiegende Alltagssprachen auf dem Staatsgebiet der Ukraine.

Über die sprachliche Situation in der Ukraine haben wir Interviews mit zwei aus der Ukraine im Zuge des russischen Angriffskriegs geflüchteten Frauen geführt: 

Olena Oleksenko (l) wurde auf der Krim geboren und ist im Alter von 3 Jahren mit ihren Eltern nach Charkiw, in die zweitgrößte Stadt der Ukraine (ca. 1,5 Mio. Einwohner) umgezogen. Charkiw liegt unweit der russischen Grenze und zählt zu den stärker russifizierten Gebieten der Ukraine. Olena Oleksenko ist in Charkiw aufgewachsen, hat dort die Schule besucht und studiert. Bevor sie mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter wegen des Krieges Anfang 2022 nach Deutschland / Landshut geflüchtet ist, hat sie an der Charkiwer Nationalen Wirtschaftsuniversität am Lehrstuhl für Fremdsprachen gelehrt. Seit ihrer Flucht lebt und arbeitet sie als Lehrerin und Dozentin in Landshut.

Viktoriia Mykhailiuk-Vrachynska (r) wurde im Dorf Drabiwka in der Zentralukraine geboren, ist im Alter von 5 Jahren mit ihren Eltern nach Uman (eine Stadt von der Größe Landshuts) umgezogen und hat vor ihrer Flucht nach Deutschland / Landshut im Erwachsenenalter sieben Jahre lang als freie Journalistin in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiv (ca. 3 Mio. Einwohner) gearbeitet. Während ihres mehr als einjährigen Aufenthalts in Landshut, war es ihr ein Anliegen, den Landshuter:innen in verschiedenen Veranstaltungen Einblicke in die von ihr geliebte ukrainische Kultur zu geben, aber auch die aktuelle politische Situation zu thematisieren. Im Juli 2023 ist sie mit ihrer fünfjährigen Tochter in eine ländliche Region in der Westukraine zurückgezogen. Zur Wahrnehmung ihres Lehrauftrags an der Hochschule Landshut kommt sie im Oktober 2023 wieder für einige Tage zu uns, wird aber den Hauptteil ihres Seminars „Ukrainische Sprache, Kultur und Geschichte“ online aus der Ukraine senden.

Orte der sprachlich-kulturellen Sozialisierung der Interviewten im Überblick:

Die Interviews wurden von Bernhard Osterkorn, Dozent für Fremdsprachen sowie Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Hochschule Landshut im März 2023 in russischer Sprache geführt und aufgezeichnet. Die Gespräche mit den beiden Interviewten haben zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden, bezogen sich aber auf dieselben Fragen. Der besseren Übersichtlichkeit halber, sind die Antworten hier den jeweiligen Fragen zugeordnet. Der hier publizierte Interview-Text wurde von Frau Dr. Oleksenko und von Frau Mykhailiuk-Vrachynska abschließend autorisiert.Wir möchten uns bei Viktoriia Mykhailiuk-Vrachynska, die im kommenden Wintersemester 23/24 einen Lehrauftrag zur Ukrainischen Sprache, Kultur und Geschichte im Studium Generale übernehmen wird und bei Olena Oleksenko, die im Wintersemester 22/23 bereits einen Lehrauftrag für Medienpädagogik im Studiengang „Neue Medien und Interkulturelle Kommunikation“ an unserer Hochschule übernommen hatte, herzlich für ihre Bereitschaft bedanken, mit uns über ihre sprachlichen Erfahrungen in der Ukraine zu sprechen. Ihre Aussagen ähneln sich in vielen Punkten und spiegeln weitgehend die oben dargelegten Gegebenheiten, unterscheiden sich aber auch aufgrund der unterschiedlichen Sozialisierung in verschiedenen Regionen der Ukraine in einigen zentralen Aspekten. 

Osterkorn: Was sind Ihre persönlichen Erfahrungen in Bezug auf das Verhältnis von ukrainischer und russischer Sprache in ihrem Heimatland?

Mykhailiuk-Vrachynska: Ich wurde in einer ukrainisch-sprachigen Familie in der zentralukrainischen Oblast Tscherkassy in dem Dorf Drabiwka geboren. Wir sprachen Dialekt, aber der Wortschatz war rein ukrainisch. In der Stadt Uman, in die wir umgezogen sind, als ich fünf Jahre alt war, wurde allerdings anders gesprochen. Viele Leute dort sprachen Surschyk, eine Mischung aus Ukrainisch und Russisch. Und beispielsweise unsere Nachbarn sprachen Russisch, auch das war normal. Da mein Sprachgebrauch „ukrainischer“ war, als der meiner Mitschüler:innen und Spielkamerad:innen wurde ich als „Dorfmädchen“ gehänselt. Da habe ich dann im Alter von 12 oder 13 Jahren angefangen, absichtlich Surschyk zu sprechen und russische Wörter in meinen Wortschatz aufzunehmen, allerdings unter Beibehaltung der ukrainischen Grammatik und Phonetik.

Oleksenko: Geboren wurde ich auf der Krim, aber als ich drei Jahre alt war, übersiedelten meine Eltern nach Charkiw, wo ich alle Phasen der sowjetischen Jugend-Sozialisierung durchlaufen habe. Ich war „kleine Oktobristin“ („Oktoberkinder“ bzw. „kleine Oktobristen“ – ca. 4 bis 10 Jahre- waren die Vorstufe zu den „Pionieren“ in der sowjetischen Jugendorganisation der KPdSU „Komsomol“)und „Pionierin“, um dann den Zerfall der Sowjetunion mitzuerleben und die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahre 1991. Ich sehe Charkiw als meine Heimatstadt an. Als Kind habe ich immer nur Russisch gehört und Russisch ist auch meine Muttersprache. Von 1988 bis 1998 bin ich in Charkiw zur Schule gegangen, wo fast ausschließlich auf Russisch unterrichtet wurde. Die ukrainische Sprache wurde in den Bildungseinrichtungen kaum verwendet. Es gab zwar das Schulfach „Ukrainische Sprache“, aber es wurde nur ein oder zwei Mal in der Woche unterrichtet und unsere Lehrerin gab uns umfangreiche Hausaufgaben auf, die oftmals darin bestanden, Zitate aus den Werken der ukrainischen Literatur abzuschreiben. Die Situation in der Westukraine war da ganz anders. Ich erinnere mich an Schulausflüge nach Lwiw (Lemberg), wo wir uns als Kinder darüber wunderten, wie frei dort alle auf Ukrainisch sprachen und dass man sogar im Café auf Ukrainisch bestellen konnte. Wir fanden das damals sehr lustig, weil es für uns ein wenig ländlich und ungewohnt klang.

Osterkorn: Und wie äußerten sich diese Spracheinstellungen in der Arbeitswelt?

Oleksenko: Im Bildungssystem erhielten russischsprachige Lehrende und Mitarbeiter:innen ein höheres Gehalt, sie bekamen mehr Sondervergütungen, hatten mehr Privilegien als Ukrainisch sprechende Berufstätige.

Mykhailiuk-Vrachynska: 2016, als ich 25 war, zog ich nach Kyjiv (Kiew). Und als ich dort auf Arbeitssuche ging, wurde immer gefragt, ob ich denn auch Russisch sprechen und schreiben könne, weil die medialen Materialien in der Regel zweisprachig veröffentlicht wurden, manchmal aber auch nur in einer Sprache: auf Russisch. In den drei Redaktionen, in denen ich gearbeitet habe, gehörte ich zu einer Minderheit von ukrainisch-sprachigen Journalist:innen und war eine der wenigen, die die Ukrainische Sprache sowohl auf der Arbeit als auch im Alltag konsequent verwendete. Die meisten meiner Kolleg:innen verwendeten Ukrainisch nur bei Bedarf. Man kann schon sagen, dass Kyjiv in der Vergangenheit russisch-sprachig war und ich begann sehr schnell zu verstehen, dass mein Russisch einen ukrainischen Akzent hatte und nicht perfekt war und dass das in der Kiewer Arbeitswelt einen großen Nachteil darstellte. Und 2019 begann ich, die Flucht nach vorne anzutreten: Ich wollte meine ukrainische Sprache von allen russischen Einflüssen befreien und wollte keinesfalls weiter Surschyk sprechen. Aus diesem Grund besuchte ich in Kyjiv eine ukrainische Sprecher:innen-Ausbildung für Schauspiel und Filmsynchronisation, um meine Aussprache von allen russischen Einflüssen zu reinigen. Ich habe mich dann auch immer stärker auf Arbeitsbereiche verlegt, wo mein Ukrainisch von Vorteil war und begann im Bereich Social Media Marketing zu arbeiten, wo ich kein Russisch mehr brauchte.

Osterkorn: Und wie haben sich Ihre persönlichen Spracheinstellungen auf die Erziehung Ihrer Kinder ausgewirkt?

Mykhailiuk-Vrachynska: Zu der Zeit (2019), als ich die Ukrainisch-Kurse in Kyjiv besuchte, begann meine Tochter gerade zu sprechen. Für mich war es schon damals sehr wichtig, ihr eine einwandfreie ukrainische Muttersprache zu vermitteln. Durch den Krieg hat sich mein Entschluss noch verstärkt: Viele Menschen sterben für unser Land. Der geringste Beitrag, den ich in dieser Situation leisten kann, ist es, unsere Sprache weiterzugeben.

Oleksenko: Wir haben unsere Kinder zweisprachig erzogen, nach dem Prinzip „one person – one language“. Ich sprach als russische Muttersprachlerin mit unseren Söhnen ausschließlich Russisch und mein aus der Westukraine stammender Mann ausschließlich Ukrainisch. Ein spannender Moment war dann für uns, zu sehen, welcher Sprache unser erstgeborener Sohn den Vorzug geben würde, als er anfing mit seinem jüngeren Bruder zu sprechen: Er begann mit ihm auf Ukrainisch zu sprechen und war also schon ein richtiger Ukrainer! Ich muss aber auch sagen, dass unsere zweisprachige Erziehung sehr gut funktioniert hat. Unsere beiden Söhne sprechen heute perfekt Russisch und Ukrainisch und haben auch nie Surschyk verwendet.

Osterkorn: Wie sehen Sie die Rolle der beiden Sprachen in der Literatur?

Oleksenko: Ich muss zu meiner Schande eingestehen, dass ich während meines Studiums mit Ausnahme von Taras Schevchenko überhaupt keine ukrainischen Schriftsteller kannte und ehrlich gesagt auch dachte, dass es keine lesenswerte ukrainische Literatur gebe. Erst durch das Literaturprogramm meiner Kinder habe ich eine für mich bis dahin unbekannte Welt entdeckt und habe angefangen ukrainische Klassiker zu lesen, die für mich vollkommen unbekannt waren.

Mykhailiuk-Vrachynska: Gegen die allgegenwärtige Unterdrückung des Ukrainischen regte sich bei mir schon im Jugendlichen-Alter Protest! Ich wollte prinzipiell keine Bücher auf Russisch lesen. Ich weiß nicht mehr genau, wo und von wem ich zum ersten Mal gehört habe, die ukrainische Literatur sei armselig und sprachlich keinesfalls so schön und ausgereift wie die russische. Aber gehört habe ich das sehr oft. Und ich wollte beweisen, dass die ukrainische Literatur nicht minderwertig ist. Ich wollte zeigen, dass sie cool ist! Und eines Tages gab eine meiner Kontrahent:innen im Meinungsstreit über ukrainische Lektüren, die ich ihr empfohlen hatte, zu, dass ich Recht hatte! Das war für mich ein unglaublich glücklicher Moment. Das erste Werk der russischen Literatur habe ich dann erst im Alter von 25 Jahren auf Russisch gelesen: „Meister und Margarita“ von Mikhail Bulgakov.

Osterkorn: Welche Auswirkungen hat der sprachliche Paradigmenwechsel auf das ukrainische Bildungssystem?

Oleksenko: Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahre 1991 änderte sich an der sprachlichen Situation in den Schulen und Universitäten zunächst nicht sehr viel. Das fing meines Wissens erst in den Nullerjahren an und nahm im Vorfeld der Orangenen Revolution und unter der Präsidentschaft von Viktor Juschtschenko Fahrt auf. Ich konnte das sehr genau beobachten, weil es bei uns damals darum ging, eine Schule für unseren erstgeborenen Sohn auszusuchen. Ich weiß nicht, ob es ein einschlägiges Gesetz gab, ich konnte zumindest nichts zu diesem Thema finden, aber fast alle Schulen in unserem Bezirk begannen Ukrainisch als Unterrichtssprache einzuführen, auch in unserer Region in Charkiw! Das war etwas grundlegend Neues: So ungefähr ab 2000 wurden alle Fächer, auch die naturwissenschaftlichen wie Chemie, Physik und Mathematik auf Ukrainisch unterrichtet. Alles musste umgestellt werden: die Lehrpläne, die Lehrbücher, die Unterrichtsmaterialien. Kinder, die in dieser Umstellungsphase bereits eingeschult waren, hatten es wirklich schwer, weil sich alle Fachterminologien geändert haben und man alles neu auf Ukrainisch lernen musste. Russisch gab es ab dem Jahre 2000 in den meisten Schulen zwar noch als fakultatives Wahlfach, aber auch das wurde, soviel ich weiß, zunehmend eingestellt, bzw. es war der Entscheidung der jeweiligen Schule überlassen. Natürlich hatte diese Umstellung auch Auswirkungen auf den russischen Spracherwerb der Schüler:innen: Ich konnte feststellen, dass viele Kinder Russisch nur noch mit haarsträubenden Rechtschreib- und Grammatikfehlern schreiben konnten. Das Ukrainische wurde bei der neuen Generation langsam aber sicher zur aktiven Sprache, Russisch hingegen bekam die Rolle einer Umgangssprache, die auf der Straße, in der Familie und in den sozialen Netzwerken verwendet wurde.

In den Universitäten war die Umstellung einfacher: Schon seit ca. 20 Jahren ist Ukrainisch die offizielle Sprache an allen ukrainischen Hochschulen: Alle wissenschaftlichen Dokumentationen und wissenschaftlichen Artikel werden seither auf Ukrainisch verfasst und die akademische Lehre findet auch nur noch auf Ukrainisch statt. Ich kann mich gut erinnern, wie wir uns im Kollegenkreis bei der Aufbereitung von Forschungsergebnissen, die auch auf Russisch veröffentlicht werden sollten, den Kopf darüber zerbrachen, wie bestimmte Termini und Definitionen adäquat aus dem Ukrainischen zu übersetzen seien. Es gab jedoch keinen Zweifel mehr daran, dass alle Forschungsergebnisse zunächst auf Ukrainisch aufbereitet werden mussten. Allerdings muss ich schon auch sagen, dass ich mit meinen Kolleg:innen an der Universität in Charkiw früher immer Russisch gesprochen habe, weiterhin Russisch spreche und ich für mich persönlich auch keine Veranlassung sehe, dies zu ändern. Wenn ich aber mit Menschen zu tun habe, die lieber Ukrainisch mit mir sprechen möchten, wechsle ich sofort und sehr gerne ins Ukrainische, das ich fast genauso gut beherrsche wie Russisch.

Osterkorn: Wie ist der Umgang mit dem kulturellen Erbe Russlands heute?

Oleksenko: Besonders deutlich wird der Kulturkampf in den vorübergehend von Russland besetzten ukrainischen Gebieten: Dort wurden Plakate der russischen Dichter-Ikone Alexander Puschkin aufgehängt. Mitunter wurden Plakate des ukrainischen Dichters und Schriftstellers Taras Schevtschenko mit Puschkin-Plakaten überklebt. Das hat bei der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Diese Ablehnung der russischen Welt ist paradoxerweise gerade in der stärker russifizierten Ostukraine, wo jeder vierte einen Verwandten oder Freund in Russland hat, besonders deutlich zu beobachten. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Hier haben die Kampfhandlungen am frühesten begonnen und sehr viele Menschen haben bereits ihr Leben verloren. Fast jede/r im Osten hat inzwischen Verwandte und Freunde durch den Krieg verloren. Die Russische Sprache wurde zur Sprache des Feindes und zum Symbol der verhassten russischen Welt. Ich beobachte das z.B. auch in WhatsApp-Gruppen, die solche Bezeichnungen tragen wie „Freunde der Ukraine“ oder „Einige Ukraine“, wo die Administratoren kategorisch den Gebrauch der ukrainischen Sprache vorschreiben. Nicht alle Ukrainer:innen sind so, aber solche Stimmungen gibt es in der Bevölkerung.

Osterkorn: Sind solche radikalen Einstellungen bei einer Mehrheit oder einer Minderheit der ukrainischen Bevölkerung zu beobachten?

Oleksenko: Ich denke, das hängt vom Umfeld ab, in dem die Leute kommunizieren. Ich persönlich bin allerdings gegen Sprachverbote, auf der einen wie auf der anderen Seite. Es ist klar, dass jetzt nach der massiven sprachlichen Unterdrückung das Pendel in die andere Richtung ausschlägt. Dennoch glaube ich persönlich, dass Verbote nicht der richtige Weg sind.

Osterkorn: Wie sehen Sie die sprachliche und kulturelle Zukunft der Ukraine?

Oleksenko: Eines lässt schon jetzt sehr deutlich sagen: Es kann in der Ukraine nur noch eine offizielle Amtssprache geben: Ukrainisch. Ich glaube aber auch, dass in der Alltagskommunikation beide Sprachen erhalten bleiben. Als Philologin bin ich außerdem der Ansicht, dass Sprache ein Mittel zur Kommunikation ist und nicht als politisches Instrument eingesetzt werden sollte.

Mykhailiuk-Vrachynska: Ich kann die Frage in Bezug auf meine Tochter beantworten: Bei ihrer sprachlich-kulturellen Erziehung gehen wir den ukrainischen Weg, sind aber offen für die europäischen Werte. In Europa gibt es ja gleichgeschlechtliche Ehen usw., das ist für mich alles kein Problem. Wenn mir meine Tochter später aber mal einen russischen Freund oder Lebensgefährten vorstellen würde, dann hätte ich sehr viele Fragen …

Osterkorn: Glauben Sie, dass sich an dieser Einstellung bei Ihnen noch einmal etwas ändern könnte?

Mykhailiuk-Vrachynska: Offen gesagt: Ich weiß es nicht. Momentan jedenfalls nicht.

Osterkorn: Sie sind vor dem russischen Angriffskrieg nach Deutschland geflüchtet, wo Sie einerseits auf geflüchtete Landsleute treffen, andererseits aber auch auf Russen. Wie erleben Sie diese Situation?

Mykhailiuk-Vrachynska: Sehr problematisch! Zwei Freundinnen von mir, die sich in Freising auf der Straße auf Ukrainisch unterhielten, wurden von zwei russischen Männern aufgefordert, sie sollten entweder Russisch sprechen oder in die Ukraine zurückgehen, dann würden sie schon sehen, was passiert! Wenn ich mit meiner Tochter in Landshut auf den Spielplatz gehe, spricht sie die Russisch sprechenden Kinder auf Ukrainisch an: Wenn sie von diesen verstanden wird, bleiben wir. Andernfalls verlassen wir den Spielplatz. Ehrlich gesagt, vermeide ich in Deutschland weitestgehend den Kontakt zu Russen. Nur in Ausnahmefällen lasse ich mich darauf ein, aber erst wenn ich die betreffende Person genau unter die Lupe genommen habe.

Osterkorn: Ich kann das gut verstehen, andererseits versuchen wir natürlich in Deutschland und auch an der Hochschule, Räume für die russisch-ukrainische Völkerverständigung zu öffnen. Ich habe selbst eine ukrainische Studentin in unseren Russisch-Herkunftssprachkurs zur Diskussion eingeladen, habe nach dem Welcome-Deutsch-Kurs an der Hochschule im Sommersemester 2022 mit meiner ukrainischen Gruppe eine Abschlussfeier im Haus International in Landshut veranstaltet, zu der auch Russ:innen eingeladen waren. Wir haben auch Studierende mit russischem Migrationshintergrund als Tutor:innen für den deutschen Spracherwerb geflüchteter Ukrainer:innen rekrutiert. In diesen Fällen hat das meist gut funktioniert.

Oleksenko: Ja, hier in Deutschland kann das schon funktionieren, denn es finden ja auch keine Kriegshandlungen statt und die Leute sitzen nicht jeden Abend im Luftschutzkeller. Nach so einer langen Zeit des Krieges, nach den zahlreichen Kriegsverbrechen, der Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur, kurz gesagt der Zerstörung des friedlichen Lebens der Ukrainer:innen liegen die Nerven blank und das führt natürlich zur Ablehnung alles Russischen.

Fazit: Paradigmenwechsel mit unterschiedlicher Ausprägung

In den Interviews wird sichtbar, wie eindeutig, umfassend, nachhaltig und identitätsstiftend in der aktuellen Situation nationaler Selbstverteidigung und Selbstbehauptung die Hinwendung zur ukrainischen Sprache und Kultur ist. Sicherlich ist die Radikalität dieses Paradigmenwechsels bei den beiden Interviewten, die vor der Russischen Aggression nach Deutschland geflohen sind, aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisation individuell sehr unterschiedlich. Dennoch wird deutlich, dass es in diesem von Russland aufgezwungenen Krieg letztendlich auch um Identität geht und um die Frage wie die Ukrainer:innen leben wollen. Die erbitterte Gegenwehr gegen die russische Invasion spricht eine deutliche Sprache: Ukrainisch! Es ist ein Befreiungskampf, der auch darin besteht, die jahrhundertelange sprachliche Unterdrückung und Bevormundung abzuschütteln.



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